Keine Angst vor Komplexität! Die Pro-Choice-Bewegung sollte sich auch komplizierten Fragen stellen, wie denen zur Pränataldiagnostik.
Nicht alle Schwangerschaftsabbrüche werden vorgenommen, weil die Schwangerschaft ungeplant oder ungewollt war. Bei einigen Abtreibungen hatten sich die werdenden Eltern sogar schon auf ihr zukünftiges Kind gefreut – diese sind die wohl schwierigsten Abbrüche für die Schwangeren selbst, aber auch in der politischen Einordnung für die feministische Bewegung. Wenn die Schwangerschaft erwünscht oder angenommen war, aber wegen der pränatalen Feststellung einer Beeinträchtigung des Fötus wieder in Frage gestellt und oft auch spät abgebrochen wird, ändern sich die persönlichen Prozesse und die gesellschaftlichen Bewertungskriterien. Bei solchen Abbrüchen greift die Pro-Choice-Bewegung mit ihrer Fokussierung auf die freie Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung einer Schwangerschaft als Ausdruck reproduktiver Autonomie zu kurz. Dennoch vermeidet die Bewegung die Beschäftigung mit pränataler Diagnostik und späten Abtreibungen weitestgehend.
Die Pro-Choice-Bewegung möchte sich für alle Personen einsetzen, die (ungewollt) schwanger werden können. Sie tendiert jedoch dazu, vor allem bestimmten Geschichten Aufmerksamkeit zu verschaffen, worauf bereits Rona Torenz hingewiesen hat. Die Komplexität des Themas reproduktiver und sexueller Gesundheit und Selbstbestimmung wird dadurch häufig reduziert.
Die Entscheidungen für oder gegen pränataldiagnostische Untersuchungen und das Austragen eines Fötus mit Beeinträchtigung oder einen späten Schwangerschaftsabbruch werden geprägt von gesellschaftlichen Normen und Machtstrukturen. Wie frei und selbstbestimmt kann die Entscheidung tatsächlich sein in einer kapitalistischen, leistungsorientierten Gesellschaft, die Behinderung weiterhin als defizitbehaftete und leidvolle individuelle Tragödie versteht?
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Link-Tipp von #NoNIPT:
https://jungle.world/artikel/2021/08/keine-angst-vor-komplexitaet (ungekürzter Artikel)