Uns fällt auf: Einige Geschichten, die uns im Rahmen der Recherche oder auch schon früher begegnet sind, passen zu keinem der bisherigen Poster-Themen. Wir möchten sie Euch an dieser Stelle trotzdem erzählen.
Behinderungsparadox
Dieser Begriff beschreibt das Phänomen, dass Menschen ohne Behinderung oft glauben, ein Leben mit einer Behinderung müsse schlechter, tragisch oder irgendwie negativ bewertet werden. Dagegen berichten Menschen mit Behinderung, dass sie ihr Leben als positiv und glücklich empfinden.
Menschen, die mit Down-Syndrom leben, leiden nicht am Down-Syndrom. Sie leiden vor allem unter mangelnder Akzeptanz, Ausgrenzung und Diskriminierung. Sie werden oft entweder als „Sonnenschein“ oder defizitär als „geistig behindert“ und „lebenslange Belastung“ bezeichnet.
Zwischen diesen Extremen scheint es nur wenig Raum für ein anderes Konzept zu geben: Das eines Menschen, der mit dem Down-Syndrom lebt und damit unter anderen genetischen Voraussetzungen als die meisten anderen Menschen. Der dadurch einiges anders erlebt und wahrnimmt und doch auch vieles gleich. Der einfach so sein darf, wie er ist, und genau so willkommen ist!
Fürsorge oder Teilhabe-Entzug? Wie das Förderprinzip das Recht auf Teilhabe beschneidet.
Meine Tochter mit Down-Syndrom wird bald 11 Jahre alt und der Wechsel auf die weiterführende Schule steht bevor. Die Schulleitung einer weiterführenden Schule schrieb uns kürzlich:
„Im Sinne der Förderung Ihrer Tochter kann ich leider meine eigene Schule nicht empfehlen, was ich sehr bedauere. Herzliche Grüße“
Der Raum, weiterhin inklusiv zu denken, wird immer enger. Sonderschulen üben eine nahezu magische Anziehungskraft aus.
Sie sind die einzigen Schulen, die uns bei Vorstellungsgesprächen kein „Aber“ oder Bedauern entgegenbringen. Doch so offen die Tür anfangs scheint, so schnell schließt sie sich, sobald das Kind Teil des Systems wird. Denn Förderung bedeutet in vielen Fällen auch Ausgrenzung.
Sonderschulen sind meist geschlossene Systeme. Es wirkt eher symbolisch und fast schon gönnerhaft, wenn die Kinder etwa einmal jährlich bei der gemeinsamen Aktion „Unsere Stadt räumt auf“ mit nicht-behinderten Kindern Müll von den Straßen sammeln (dürfen).
Ein fragwürdiges Verständnis von Fürsorge: Über „Zwerge“ und „Einreibungen“.
Zwei Schulen auf einem Gelände. Die meisten Kinder mit Behinderung werden in der „Schule für Kinder mit besonderem Förderbedarf“ unterrichtet, in einem Gebäude, das „Zwergenhaus“ genannt wird. Diese Bezeichnung einer Bildungseinrichtung (!) lässt Zweifel an der Bereitschaft zu echter Inklusion und dem Willen zur selbstkritischen Reflexion aufkommen.
Bei der Besichtigung einer Sonderschule zeigte uns eine Mitarbeiterin stolz einen Raum für sogenannte rhythmische Einreibungen, wo Schüler*innen in Absprache mit Therapeut*innen und Ärzt*innen auch Fußbäder, Wickel oder Öl-Bäder erhalten.
Wie kommt man auf die Idee, Schüler*innen im Kontext Schule fast unbekleidet einzusalben und ihnen körperlich so nahe zu kommen?
Solange Menschen als „Zwerge“ bezeichnet werden und man glaubt, ihnen mit „Einreibungen“ etwas Gutes zu tun, verweigert man ihnen unter dem Vorwand der Fürsorge das Recht auf Teilhabe.
Ausstellungs-Poster als barrierearmes PDF:
https://nonipt.de/wp-content/uploads/2024/11/Mit-zweierlei-Mass_Behinderungsparadox-und-Fuersorge.pdf