Auch wenn der G-BA die Kassenfinanzierung des NIPT auf die Trisomien 13, 18 und 21 beschlossen hat und der Test seit dem 1. Juli 2022 als Kassenleistung erhältlich ist, hat sich für #NoNIPT das Thema damit nicht erledigt. Vielmehr hat das Bewertungsverfahren zu diesem Test einen erheblichen Regelungsbedarf sichtbar gemacht.
Im September haben wir die von uns festgestellten Regelungsbedarfe im Kontext des NIPT in einem 7-seitigen Papier zusammengestellt. Es umfasst die Themen:
1. Angebot von und Zugang zu vorgeburtlichen genetischen Tests ohne therapeutische Handlungsoptionen müssen gesetzlich geregelt werden.Der NIPT hat technisch gesehen ein nahezu unbegrenztes Leistungsspektrum. Neben den Tests auf Trisomien werden derzeit Tests auf weitere Chromosomenbesonderheiten als Selbstzahlerleistungen angeboten. Sie suchen beispielsweise nach geschlechtschromosomalen Genvarianten wie dem Turner- oder dem Klinefelter-Syndrom oder nach Mikrodeletionssyndromen wie dem DiGeorge-Syndrom.
Angekündigt sind Tests auf weitere genetische Besonderheiten, auf Krankheiten und Behinderungen, die erst in der übernächsten Generation ausbrechen können oder auch lediglich auf Krankheitsdispositionen wie etwa Diabetes I.
Es liegt in der Verantwortung des Gesetzgebers zu entscheiden, ob das, was technisch möglich ist, auch auf den Markt gebracht werden darf und welche spezifischen Zugangsregelungen es bei den nicht invasiven Pränataltests geben soll. Angesichts der Brisanz der Tests kann er dies nicht weiter dem freien Markt und den Gewinnmaximierungsinteressen der Herstellerfirmen überlassen.
Wir sehen den Gesetzgeber umso mehr in der Verantwortung, weil zu befürchten ist, dass die Kassenzulassung des NIPT auf Trisomien ein Präjudiz setzt und andere Anbieter insbesondere mit Gleichheitserwägungen für die Kassenfinanzierung ihrer Tests argumentieren werden.
Der Gesetzgeber muss daher regeln – und zwar unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien –, ob der NIPT beispielsweise auf Erkrankungen wie Mukoviszidose ohne Einschränkungen verkauft werden darf, für die es bereits erfolgreiche Therapien gibt oder auf lediglich Dispositionen für Krankheiten wie Diabetes I oder das Brustkrebsgen.
In diesen Kontext gehört auch die Frage, ob der Staat weiter Steuermittel für die Entwicklung solcher Tests bereitstellen soll, die ohne therapeutische Konsequenzen bleiben.
Der Finanzierungsbeschluss des G-BA vom 19.09.2019 hebt als medizinische Indikation für die Kassenleistung allein auf die subjektive Besorgnis der Frau vor einem Kind mit Trisomie ab. Er öffnet damit weit die Tür zu einem anlasslosen allgemeinen Screening auf Trisomien, und zwar in erster Linie auf die Trisomie 21 (Down-Syndrom).
Ein solches allgemeines Screening haben aber sowohl der G-BA als auch die Mehrheit der Abgeordneten in der Orientierungsdebatte 2019 als ethisch nicht verantwortbar abgelehnt.
Deshalb ist ein Monitoring zur Umsetzung dieses Beschlusses dringend geboten. Dies ist auch erforderlich, um belastbare Daten z.B. über die in den Mutterschaftsrichtlinien geforderte ausführliche medizinische Beratung zu erhalten, über die Zusammenarbeit mit psychosozialen Beratungsstellen und der Selbsthilfe oder über die auch von der Ärzt*innenschaft befürchtete Zunahme der Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen nach § 218a StGB aufgrund eines auffälligen Testergebnisses.
Aufgrund der Erfahrungen in der Peer-Beratung halten wir die Evaluierung der Beratungsqualität und -quantität für erforderlich, sowohl was die Einhaltung der Vorgaben des GenDG und SchKG betrifft, als auch die Art und Qualität der übermittelten Informationen an die werdenden Eltern sowie die Qualität der ärztlichen Kommunikation mit ihnen.
Der G-BA hat im Bewertungsverfahren zum NIPT wiederholt darauf hingewiesen, dass er medizinische Leistungen lediglich medizinisch-technisch prüfen könne. Die ethische und gesellschaftspolitische Bewertung sei die Aufgabe des Gesetzgebers. Sie sei bei diesem Test dringend erforderlich, weil er „fundamentale ethische Grundfragen unserer Werteordnung“ berühre. Der Gesetzgeber müsse sich auch mit Blick auf weitere medizinische Innovationen bei Gentests positionieren.
Aus unserer Sicht muss der Gesetzgeber das bisherige Bewertungsverfahren für solche ethisch und gesellschaftlich umstrittenen Tests überprüfen und weiterentwickeln. Wir halten es für erforderlich, dass das Angebot von und der Zugang zu solchen Tests gesetzlich geregelt und nicht der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen überlassen werden.
In der Orientierungsdebatte des Deutschen Bundestags am 11. April 2019 zu vorgeburtlichen genetischen Tests hat der jetzige Bundesgesundheitsminister diese Einschätzung des G-BA aufgegriffen und mit Verweis „auf künftige Tests auf fast jede erdenkliche Erkrankung“, die bereits in Erprobung seien, vorgeschlagen, ein neues Bewertungsverfahren und ein neues Gremium mit „Ethikern, Wissenschaftlern, Soziologen und Psychologen“ zu installieren.
Dieser Vorschlag ist aus Sicht der kritischen Zivilgesellschaft ausdrücklich zu begrüßen: Ein solches Gremium könnte den Gesetzgeber fachlich-inhaltlich beraten und sicherstellen, dass eine ethische und gesellschaftspolitische Bewertung vorgeburtlicher Tests erfolgt. In diesem Gremium müssten neben Vertreter*innen der genannten Professionen auch zwingend Betroffene und ihre Familien sowie kritische Stimmen der Zivilgesellschaft Sitz und Stimme erhalten.
Die Herstellerfirmen und Anbieter von vorgeburtlichen genetischen Tests suggerieren in ihren Hochglanzflyern, auf ihren Homepages und in den sozialen Medien, es gebe einen Zusammenhang zwischen ihrem Test und einem gesunden Baby. Sie tragen mit dieser Werbestrategie wesentlich dazu bei, dass solche Suchtests von den Konsument*innen – zumal in der besonders vulnerablen Phase zu Beginn der Schwangerschaft – als sinnvoll und normal nachgefragt werden.
Es sollte geprüft werden, wie einem solchen Vorgehen als bewusste Täuschung von Verbraucher*innen Einhalt geboten werden kann.
Überprüft werden sollte auch, ob die aktuell zu beobachtende Werbung für einen Test auf eine spezifische Form der Chromosomenbesonderheit wie dem Down-Syndrom rechtlich zulässig ist. Ggfs. ist eine Änderung des Heilmittelwerbegesetzes (HWG) zu diskutieren, um die Werbung für NIPT auf die Trisomien 13, 18 und 21 außerhalb von Fachkreisen zu unterbinden.
Im Juli 2021 wurde bekannt, dass die chinesische Firma BGI Group genetische Daten von Schwangeren und Föten aus übriggebliebenen Blutproben des NIPT aus ihrem Labor in Hongkong für die Bevölkerungsforschung einsetzt und dazu mit dem chinesischen Militär kooperiert. In Deutschland vertrieb die Firma Eluthia diesen NIPT unter dem Namen „Previa-Test“.
Ärzt*innen und Schwangere müssen sicher sein können, dass sensible genetische Daten nicht unerlaubt für andere Zwecke verwendet werden. Die Datenschutzregelungen sind nicht nur in China, sondern bspw. auch in USA deutlich freizügiger als in Europa geregelt.
Es braucht daher im Zusammenhang mit vorgeburtlichen Tests eine gesetzliche Regelung gegen ungerechtfertigten Datenabfluss, insbesondere ins außereuropäische Ausland.
Eine aktuelle Mindestforderung an die neue Kassenleistung ist, dass werdende Eltern die Wahlmöglichkeit haben müssen, ob sie den NIPT auf alle drei Trisomien 13, 18 und 21 machen lassen wollen oder ob sie z. B. nur nach den Trisomien 13 oder 18 suchen möchten. Das setzt voraus, dass die Firmen und Labore eine solche Auswahl überhaupt ermöglichen.
Das ist derzeit nicht der Fall: Alle Anbieter bewerben und verkaufen den NIPT als Gesamtpaket für die Suche nach den Trisomien 13, 18 und 21. Es gibt zwar Firmen wie etwa Euro-fins/LifeCodexx Konstanz, die ihren Test zusätzlich auch nur auf die Trisomie 21 anbieten. Es gibt jedoch keine Firma, die den NIPT ausschließlich auf die Trisomien 13 und 18 verkauft.
Werdende Eltern können daher derzeit nicht selbstbestimmt entscheiden, ob sie ihr werdendes Kind nur auf die Trisomien 13 und 18 testen lassen wollen, aber nicht auf die Trisomie 21, weil dieses Wissen für sie in der Schwangerschaft keine Entscheidungsrelevanz hätte.
Wenn wir es als Gesellschaft mit der Wahlfreiheit und dem Recht auf Nichtwissen der werdenden Eltern ernst meinen, dann besteht hier dringender Änderungsbedarf!
Der NIPT wird in naher Zukunft den werdenden Eltern eine Überfülle an Wissen über kleinste genetische Veränderungen bei ihrem werdenden Kind bereitstellen, deren Auswirkungen kaum oder noch nicht bekannt sind und bei denen die Ärzt*innen ihrer Aufklärungspflicht kaum noch werden nachkommen können.
Wie aber sollen die werdenden Eltern auf der Grundlage solcher unklaren Informationen eine Entscheidung für oder gegen die Fortsetzung der Schwangerschaft treffen können? Welchen Stellenwert hat die informationelle Selbstbestimmung des (werdenden und später geborenen) Kindes bei Tests auf genetische Varianten, die erst im Laufe des Lebens oder in der (über-)nächsten Generation zum Ausbruch kommen können und/oder für die es bereits erfolgreiche Behandlungsmöglichkeiten gibt?
Was dürfen werdende Eltern über die Erbanlagen ihres werdenden Kindes wissen? Wie verhält sich ihr Recht auf Wissen zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung des werdenden Kindes, das noch nicht die volle Rechtsfähigkeit besitzt?
Wolfram Henn / Dagmar Schmitz prognostizierten bereits bei der Markteinführung des NIPT im Jahr 2012, der Gesetzgeber werde angesichts des technischen Potenzials des Tests künftig eine Pflicht der Eltern zum Nichtwissen regeln müssen.
In den Debatten um die Kassenzulassung des Tests wurde vielfach auf die Bedeutung der ärztlichen und psychosozialen Beratung zum NIPT für die werdenden Eltern abgehoben. Es hatte fast den Anschein, als ob Beratung ein Ausweg aus dem gesellschaftspolitischen Dilemma sei, dass wir als Gesellschaft einen Text ohne medizinischen Nutzen und mit hohem Diskriminierungspotential insbesondere für Menschen mit Down-Syndrom finanzieren.
Die Beratung ist unverzichtbar, um dem einzelnen Paar in einer existentiell konfliktreichen Situation beizustehen, wie sie auffällige Testergebnisse fast zwangsläufig auslösen, und um sie bei der Suche nach einer eigenen Entscheidung zu unterstützen, mit der sie auch in Zukunft werden leben können.
Aber es ist ein Irrtum zu glauben, Beratung könne die zu befürchtenden Auswirkungen dieser Kassenleistung „wegberaten“! Auch noch so qualifizierte Beratung durch Ärzt*innen oder Berater*innen kann die zwiespältige Botschaft einer kassenfinanzierten Suche nach dem Down-Syndrom an die werdenden Eltern nicht auflösen. Und schon gar nicht kann sie die ethische Debatte zu diesen Tests ersetzen, um die wir uns als Gesellschaft bisher drücken.
Zudem ist es kaum realistisch, dass Schwangere noch vor der Entscheidung für oder gegen den NIPT oder gar vor der Information über den Test durch ihre Ärzt*in eine Beratungsstelle aufsuchen. Dazu ist das Zeitfenster zwischen der Feststellung der Schwangerschaft und der Blutabnahme für den NIPT in der 11. SSW zu knapp. Bestenfalls werden sie von ihrer Ärzt*in nach einem auffälligen Testergebnis oder einem auffälligen Befund zur vertiefenden Beratung in die Beratungsstellen vermittelt.
Die niedergelassenen Gynäkolog*innen in der Schwangerenvorsorge wiederum befinden sich in Ziel- und Interessenkonflikten: Sie haben Angst vor juristischen Konsequenzen, wenn sie nicht zu vielen Untersuchungen raten, oder sie haben womöglich selbst ein Interesse daran, sie durchzuführen. Die Vorgaben des GenDG für die Zulassung zur Beratung sind umfangreich, die entsprechenden Fortbildungen knapp und meist wenig auf kommunikative Fähigkeiten ausgerichtet, wenn nicht sogar von Anbietern selbst durchgeführt. Viele Gynäkolog*innen verzichten daher darauf, sich entsprechend zu qualifizieren und leiten zur Beratung gleich an die Pränatalzentren weiter.
Die Angst der werdenden Eltern vor einem Kind mit Behinderung ist groß. Die Angst vor einem Kind mit geistiger Behinderung ist gewaltig. Diese Ängste der Eltern sind ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Es sind auch begründete Ängste: vor Exklusion und fehlender Akzeptanz, vor bürokratischen Hürden und mangelnder Unterstützung, vor fehlenden Ressourcen, lebenslanger Fürsorgeverpflichtung für ihr Kind, vor sozialem Abstieg.
Familien mit Kindern mit Behinderung können ein Lied singen von den Mühen um einen Platz für ihr Kind und für sich in unserer Gesellschaft. Auch wenn sich in den letzten Jahren einiges getan hat: Wir sind noch weit entfernt von gleichwertigen Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen und für ihre Eltern. Eltern leiden nicht unter ihrem behinderten Kind. Sie leiden an der gesellschaftlichen Haltung gegenüber ihrem Kind mit Behinderung!
Der NIPT auf Trisomien ist kein Test gegen die Angst der Eltern und kein Test auf dem Weg zu einer inklusiveren Gesellschaft. Durch die Entscheidung des G-BA, dass der NIPT künftig von der Solidargemeinschaft finanziert wird, wird diese gesellschaftliche Haltung – Kinder mit Down-Syndrom sind vermeidbar – noch mehr bekräftigt werden.
Wir wünschen uns, dass der Gesetzgeber deutliche Zeichen gegen diese Bilder setzt, durch eine Regelung solcher vorgeburtlichen Tests ohne medizinischen Nutzen wie durch eine Ausgestaltung von Rahmenbedingungen für ein gutes Leben für alle.
Wir wünschen uns, dass der Gesetzgeber Sorge trägt für eine kritische Information und Aufklärung der Gesellschaft zu diesen umstrittenen Tests und dass er die dringend nötige parlamentarische und gesellschaftliche Debatte organisiert.
In dieser Debatte müssen die kritischen zivilgesellschaftlichen Verbände, Vereine und Organisationen zu Wort kommen und vor allem müssen auch Menschen mit Behinderungen und ihre Familien daran beteiligt werden – und zwar auf Augenhöhe.
Am 23.09.2022 trafen sich Vertreterinnen des #NoNIPT-Kernteams mit Vertreter*innen der im Juli neu gegründeten „Interfraktionellen Arbeitsgruppe Pränataldiagnostik“ des Deutschen Bundestages, um das Papier zu den Regelungsbedarfen vorzustellen.
Die interfraktionelle Arbeitsgruppe hat sich das Thema für diese Legislaturperiode auf die Agenda geschrieben: „Wir sind an dem Thema noch dran.“, hat uns Corinna Rüffer, behindertenpolitische Berichterstatterin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, während des Gesprächs versichert.
Die Zusammenstellung der Regelungsbedarfe können Sie hier herunterladen:
https://nonipt.de/wp-content/uploads/2022/10/2022-09-20_Netzwerk_Praenataldiagnostik_NoNIPT_-Regelungsbedarf-beim-NIPT.pdf