Selektion als Kassenleistung? 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges? Das darf es nicht geben. Das ist nicht die Gesellschaft, in der ich leben möchte.
Wörter können töten: Im Juli wird vermutlich beschlossen, dass der Bluttest zur vorgeburtlichen Bestimmung des „Risikos“ einer Trisomie 21 in Deutschland Kassenleistung wird. Aber: Menschen sind kein Risiko. Menschen sind Menschen. Mit oder ohne Trisomie.
Die Einführung des Tests wird unmittelbar zur Folge haben, dass in Kürze kaum noch Menschen mit Trisomie 21 geboren werden, denn: 95% aller werdenden Eltern, die mit der Diagnose Trisomie 21 konfrontiert werden, entscheiden sich für eine Abtreibung. Kommt dieser Test als Standard-Schwangerschaftsvorsorge-Programm, bedeutet das faktisch Selektion als Kassenleistung.
Die zivilgesellschaftliche Initiative, die gegen den Test protestiert, findet zu wenig Widerhall. Sie besteht vor allem aus Verbänden, die sich für die Interessen von Menschen mit Behinderungen einsetzen, die ausgewogen informieren, freundlich fordern, und auf die Menschenrechte verweisen, auf die UN-Behindertenrechtskonvention, also auf geltendes Recht, mit dem das schlicht nicht vereinbar ist.
Es ist aber zu wenig, wenn nur die Fachverbände protestieren. Es müsste ein breiter gesellschaftlicher Skandal sein, denn eine ultimativere Form der Diskriminierung geht ja gar nicht. Wo bleibt das Entsetzen? Die Wut? Der Aufschrei? Wieso nehmen wir das einfach so hin?
Es ist menschenverachtend, und das in seiner ultimativen Form. Und es geht eben nicht um eine spezifische Behinderung, sondern um ein Menschen- und Gesellschaftsbild – und es ist bitter, dass da die Interessenverbände völlig alleine dastehen.
Wir können das nicht länger mit Schulterzucken quittieren.
Harald Wolff ist Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft. Die DG vereint über 800 Theaterschaffende aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie setzt sich seit Jahren für eine freie, offene, diverse Gesellschaft ein.
(C) Foto: Rolf K. Wegst
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